Zurüruck zum Inhalt

Allerheiligen

Montag, 1. November 2010, geschrieben von Mimi Müller
Paul, mein Paul.

Paul, mein Paul.

Bei Ihnen: Allerheiligen. Ein arbeitsfreier Tag. Hier, in der Hansestadt Hamburg, im protestantischen Norden:  Ein Tag wie jeder andere.  Gestern? Halloween.  Von “Reformation” nur noch am Rande die Rede…

Man feiert hier oben auch nicht das Martinsfest. Hier gibt es Laternenfeste.  Irgendwann so Ende Oktober. Kann jeder halten, wie er will. Das St.Martins-Lied wird hier nicht gesungen und keinesfalls reitet einer vorneweg. Kein armer Mann im Schnee.  Keine Mantelteilung…

Das ist eine meiner frühsten, ganz bewußten, Erinnerungen an einen Akt der Nächstenliebe. Noch bevor ich etwas von Christus gehört habe, vom Doppelgebot der Liebe, erfuhr ich davon durch das St. Martins-Fest.  Ich wußte nichts von Konfessionen und Religionen und verfolgte mit der Laterne in der Hand mit den offenen Augen und dem großen Herzen eines Kindes einen einzigartigen Akt der Nächstenliebe. Von dem Moment an,  da ich das Lied hörte, am Feuer stand, zum allerersten Mal dem Schauspiel zusah, wußte ich, um das Wesentliche im Leben.  Wußte von Armut und Reichtum, vom gerechten Teilen, von den Akten der Nächstenliebe. Meine Familie, die eine evangelische ist, beließ mich in Glaubensdingen frei. So durfte ich gehen, wohin ich wollte, ich durfte selbst nach Gott suchen, auf allen Wegen mich von ihm finden lassen – auch auf denen der Katholiken…Doch das ist eine andere Geschichte…

St.Martin jedenfalls hatte für mich als Kind eine herausragende Bedeutung. Nicht als Heiliger, denn darüber vermochte ich mir kein Urteil zu bilden, aber als Mensch, der seine zentrale Bedeutung einem Akt der Nächstenliebe verdankte.  Martins Handeln wurde mir Vorbild. Der Mann war zu Recht berühmt, befand ich in meinem Kinderkopf und eiferte ihm nach. Unbelastet durch jedweden religiösen Krempel und Ballast, sei er evangelisch oder katholisch, erlebte ich jedes Martinsfest wie ein geheimnisvolles Schauspiel, voller Andacht und Freude stand ich im Schein des Feuers und schaute gebannt zu. Und immer , in jedem Jahr, siegte erneut die Menschlichkeit über Kälte, Armut und Tod…

Es hat mich schon gewundert,  in Duisburg, als vor einigen Jahren es anfing damit, daß in einigen Kindergärten plötzlich nur noch “Laternenfeste” gefeiert werden sollte. Ohne jedweden Bezug zu Martin, weil: ohne jeden Bezug zur Religion, weil:  multikulti – alle Kinder sollen teilnehmen können.  Diese Verleugnung der den Laternenumzügen zu Grunde liegenden Geschichte, so befand ich, damals wie heute, ist armselig und sie zeigt die ganze Hilflosigkeit derer, die keine Antworten mehr haben, auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Man beraubt die Kinder der Welt, gleich welcher Religion ihre Eltern angehören, einer einzigartigen Geschichte, eines Beispieles gelebter Liebe zum Nächsten. Darüber hinaus nimmt man ihnen die Möglichkeit, die Glaubensgeschichten der jeweils Anderen kennenzulernen, unterbindet Neugier und die Entwicklung von Toleranz. Wer seinen Kindern verbietet,  sich in dieser Gesellschaft in dieser Hinsicht frei zu entwickeln,  ist in meinen Augen von zweifelhafter Erziehungsfähigkeit und wer dem Vorschub leistet,  in dem er die religiösen Feste seines Kulturkreises ihres Wesenskernes beraubt, damit alle mitmachen können und auf eine Kerze (sei sie auch in einer Laterne) zu reduzieren sucht,  ist in meinen Augen um keinen Deut besser. Da sind wir dann nicht mehr weit weg von den Jahresendzeitfiguren …

Unter “Freier Religionsausübung” verstehe ich auch das praktische Ausüben der eigenen.  Eine Verleugnung der eigenen Wurzeln gehört für mich ebenso nicht dazu,  wie diese “innere Leere”.  Der Geist Gottes kann zwar auch in einem ausgehöhlten Kürbis sein, aber er kann nicht im Martinsfest nicht sein.  Wenn nun aber schon im protestantischen Hamburg die Sinnentleerung des Martinsfestes, seine “Entchristianisierung”  im Vergleich zum katholischen Duisburg soweit fortgeschritten ist, dann sollten wir, wenn wir uns schon daran machen, die Glaubenspraxis anderer zu kritisieren, auch mal daran machen, uns unsere eigene zu betrachten…

Heute ist Allerheiligen.

Ich werde Kerzen ins Fenster stellen, für die, die bei der Loveparade ihr Leben ließen. Und auch für all die, die ich selbst im Laufe der Jahre verlor und für all die anderen, die vor uns gingen.