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Erste Begegnung mit Gerz

Mittwoch, 5. Januar 2011, geschrieben von Ellen
Freie Dachkammer Lirich

Freie Dachkammer Lirich

Irgendwann hatte ich es in der Zeitung gelesen. Kulturhauptstadt2010, Projekt: 2-3 Strassen, Jochen Gerz sucht…

Von dem ganzen Kulturhauptstadtgetöse hielt ich nichts. Wieder so ein Leuchtturmprojekt, diesmal ganz großer Leuchtturm, ganz großes Theater, sollte ja Europa beblinken, extra-teuer, und wiedermal würden die die Kosten zu tragen haben, die drunter stehen, direkt unter dem Leuchtturm, denen die ganze Blinkerei nix nutzt, denen man in den Büchereien dann anschließend das Licht ausknipst, mit dem Hinweis dadrauf, dass der Buchbestand eh überaltet ist. Für diese Vetternfeier würde die Freie Szene bitter bluten. Jedenfalls, soweit sie überhaupt noch Blut in den Adern hätte. Der Rest bekäme ein paar Beruhigungspillen…

Ich las also über dieses Projekt, zwei, drei Strassen, soweit man Informationen bekam, und beschloss, mich um eine der Wohnungen zu bewerben. Denn was  da im großen Stile beabsichtigt wurde, schien mir nicht nur sinnhaft, ja es entsprach darüber hinaus dem, woran ich selbst schon seit Jahren arbeitete – allerdings allein. Über Jahre hatte ich mein Wohnumfeld, meine Strasse,   als mein persönliches “Kunstprojekt” betrachtet und zu verändern gesucht. Ich lebte ebenfalls in einem “Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf” und schuf dort, mit einigem Erfolg,  eine Wärmeplastik nach der Anderen. Allerdings allein. Wieviel ließe sich wohl erreichen, wenn viele Menschen, mit derselben und darüber hinaus auch noch erklärten Absicht, sich daran machten, Wirklichkeit (be)schreibend zu gestalten? Hier bot sich eine Gelegenheit das herauszufinden …

Die Bewerbung war schnell erledigt.  Ein Kontaktformular im internet,  Name, Anschrift… nichts Wesentliches.

Am 18. Februar 2009 erhielt ich dann ein mail mit Dank für die Bewerbung. Und ein Nachtragsmail:

“Wir schicken Ihnen in den nächsten Wochen unseren Mietvertrag zur Ansicht (nicht Unterzeichnung) – bitte haben Sie bis dahin noch etwas Geduld.”

Ich hatte keinerlei Eile – wunderte mich allerdings über dieses merkwürdige Verfahren, in dem man alles mögliche bekam, nur keine genaueren  Informationen.

Der angekündigte Mietvertrag kam, allerdings nicht allein, am 27.3.2009.  Auszug e-mail:

“Um Ihnen und uns Klarheit zu verschaffen, sind Schritte nötig, die wir bei der Umsetzung des künstlerischen Prozesses von 2-3 Straßen berücksichtigen müssen. Wir möchten Sie daher bitten, die folgenden Dokumente gewissenhaft zu prüfen. Wir brauchen Ihr Einverständnis zum Teilnehmervertrag, den Allgemeinen Bedingungen und dem Mietvertrag. Bitte lesen Sie diese drei Dokumente sorgfältig und benutzen Sie das Formular für Ihre Rückmeldung an uns. Die Verträge sind “nur” ein pro forma Entwurf zu Ihrer Kenntnis, Sie erhalten die Verträge erst bei Vertragsabschluss im Original von uns. Bitte antworten Sie bis zum 6. April 2009, ob Sie unter diesen Voraussetzungen an der Realisierung von 2-3 Straßen weiterhin teilnehmen wollen. Die nächsten Schritte bis zur Entscheidung für Ihre Teilnahme (vor dem 1. Juli 2009) werden wir danach gemeinsam tun.

Wir wissen, dass wir Ihnen viel Lektüre, Informationen, Hinweise und Regeln zumuten, doch liegt es wohl in der Natur einer so öffentlichen Arbeit wie 2-3 Straßen, dass sie der gesellschaftlichen Realität nicht unähnlich sieht. Und zu der gehört Verwaltung.

Wir möchten Ihnen nochmals danken für Ihr Selbstvertrauen und Ihr Vertrauen in die gemeinsame Arbeit.”

Das war der Moment, in dem jegliches Vertrauen in eine wie auch immer geartete gemeinsame Arbeit so vollständig schwand, wie Vertrauen nur schwinden kann.  Mein Knie, mit dem ich zuweilen denke, hatte schon die ganze Zeit gezuckt, nun hatte ich es auch verstanden. Und schrieb zurück:

“Sehr geehrter Herr Gerz,

wie soll ich, als Laie, Verträge gewissenhaft prüfen, mit deren Abfassung sich wohl ganze Heerscharen von Juristen beschäftigt haben ? Und dann lassen Sie mir gerade einmal zwei Wochen dazu?

So weit wie ich das überhaupt verstanden habe … mag ich das gar nicht verstanden haben.

Vielleicht erklären Sie es mir ja mal mit einfachen Worten…”

Ich erwartete keine Antwort. Und ich bekam sie auch nicht.

Mit jenem Tag aber ist Herr Gerz,  wenn auch unsichtbar, so aber doch zur zentralen Figur meines Projektes “Freie Wege” geworden.

Ich tat wie von ihm gewünscht, betrachtete seine Vorbereitungszeit schon als Teilnahme, bezog unverzüglich im Internet meine neue Wohnung und machte mich am 1. April 2009 an die Arbeit.